Dienstag, 6. Mai 2014

Das Projekt Gutenberg schreibt zum Thema "Der Rattenfänger zu Hameln":


Der Rattenfänger zu Hameln

Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein sonderbarer Mann sehen. Er trug einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch, weswegen er Bundting geheißen haben soll, und gab sich für einen Rattenfänger aus. Er versprach für einen bestimmten Lohn die Stadt von allen Ratten und Mäusen zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und sicherten ihm den verlangten Betrag zu. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen aus der Tasche und begann eine eigenartige Weise zu pfeifen. Da kamen sogleich die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Sobald der Fänger glaubte, es sei keine mehr zurückgeblieben, schritt er langsam zum Stadttor hinaus, und der ganze Haufe folgte ihm bis an die Weser. Dort schürzte der Mann seine Kleider, stieg in den Fluss, und alle Tiere sprangen hinter ihm drein und ertranken.
Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten dem Mann die Auszahlung unter allerlei Ausflüchten, so dass er sich schließlich zornig und erbittert entfernte. Am 24. Juni, am Tage Johannis des Täufers, morgens früh um sieben Uhr erschien er wieder, diesmal in Gestalt eines Jägers, mit finsterem Blick, einen roten, wunderlichen Hut auf dem Kopf. Wortlos zog er seine Pfeife hervor und ließ sie in den Gassen hören. Und in aller Eile kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mädchen, vom vierten Lebensjahr angefangen, in großer Zahl dahergelaufen. Darunter war auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters.
Der ganze Schwarm zog hinter dem Mann her, und er führte sie vor die Stadt zu einem Berg hinaus, wo er mit der ganzen Schar verschwand. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, das mit einem Kind auf dem Arm weit rückwärts nachgezogen war, dann aber umkehrte und die Kunde in die Stadt brachte. Die Eltern liefen sogleich haufenweise vor alle Tore und suchten jammernd ihre Kinder. Besonders die Mütter klagten und weinten herzzerreißend. Ungesäumt wurden Boten zu Wasser und zu Land an alle Orte umhergeschickt, die nachforschen sollten, ob man die Kinder oder auch nur einige von ihnen irgendwo gesehen habe; aber alles Suchen war leider vergeblich.
Hundertunddreißig Kinder gingen damals verloren. Zwei sollen sich, wie man erzählt, verspätet haben und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere taubstumm war. Das blinde konnte den Ort nicht zeigen, wo es sich aufgehalten hatte, wohl aber erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt waren, das taubstumme nur den Ort weisen, da es nichts gehört hatte und auch nicht sprechen konnte.
Ein kleiner Knabe war im Hemd mitgelaufen und nach einiger Zeit umgekehrt, um seinen Rock zu holen, wodurch er dem Unglück entgangen war; denn als er zurückkam, waren die andern schon in der Senkung eines Hügels verschwunden.
Die Straße, auf der die Kinder zum Tor hinausgezogen waren, hieß später die bunge-lose (trommeltonlose, stille), weil kein Tanz darin abgehalten und kein Saitenspiel gerührt werden durfte. Ja, wenn eine Braut mit Musik zur Kirche geführt wurde, mussten die Spielleute in dieser Gasse ihr Spiel unterbrechen. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg. Dort sind links und rechts zwei Steine in Kreuzform zur Erinnerung an dies traurige und seltsame Ereignis errichtet.

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Die Bürger von Hameln haben diese Begebenheit in ihrem Stadtbuch verzeichnen lassen. Im Jahre 1572 ließ der Bürgermeister die Geschichte auf den Kirchenfenstern abbilden.

Wo die Weser sich durch wohlige Hügel schlängelt und sich liebreizende Märchen wie Perlen an einer Kette entlang ihres Ufers reihen, da trug sich im Jahre 1284 ein erschütterndes Ereignis zu. Eine Geschichte um Betrug und Rache, deren Ende fast unerträglich scheint. Kein Happy End, kein Wohlgefühl, wenn die letzten Zeilen der Überlieferung gelesen sind; es bleibt nur das „Unerklärliche“ der Rattenfängersage von Hameln.

Nicht die Rattenplage, sondern das spurlose Verschwinden von 130 Kindern ist die Tragik der jahrhundertealten Geschichte. Vom Rattenfänger verführt, sind Kinder die Opfer – unschuldig und naiv. Und mittendrin der Rattenfänger, der zunächst nur seine Arbeit tat. Das pelzige Ungeziefer, das aus allen Ecken, Winkeln und Gassen hervorkroch, die widerwärtigen Nager, die selbst am hellen Tag auf Tischen und Bänken herumsprangen - davon sollte er Hameln befreien. 

Geheimnis, Magie und Verführung

Und Bunting, so soll er wegen seines bunten Gewandes geheißen haben, zückte alsbald sein Pfeifchen und die Ratten folgten demütig seinem verführerischen Flötenspiel. Da, wo heute die Ausflugsschiffe Hameln anlaufen, sollen sie untergegangen sein. Quiekend und glucksend verschwanden sie angeblich zuhauf in den Wellen der Weser auf Nimmerwiedersehen.

Die Stadtherren selbst besiegelten durch ihren Geiz und ihre Gier das mysteriöse Ende der Geschichte. Nichts ahnend verweigerte Hameln dem Pfeifer den gerechten Lohn und jagte ihn sogar aus der Stadt. Um Gerechtigkeit betrogen, kehrte der Rattenfänger am 26. Juni 1284 nach Hameln zurück. Seine Rache war bitter: Er raubte der Stadt ihre Zukunft - ihre Kinder. Mit seinem faszinierenden Flötenspiel lockte er Mädchen und Knaben aus Hameln. Durch Wiesen und Wälder ohne Angst, verführt von seinen lieblichen Flötentönen, gingen sie mit ihm ins Gebirge, verschwanden in einem Berg nahe Hameln und waren nie mehr gesehen.
Zwei Kinder sollen sich verspätet und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen sei, so dass das Blinde den Ort nicht zeigen konnte, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das Stumme zwar den Ort gesehen hätte, obgleich es aber nur andeuten konnte, was es gesehen hatte.
Hameln fasziniert

Niemand weiß genau, ob es sich wirklich so zugetragen hat oder ob es nur aus der Feder eines findigen Schreiberlings oder aus den Mündern geschwätziger Bürger stammt. Was bleibt ist die Magie, der Zauber der jeher auf Hameln liegt. Die uralte Sage macht Hameln einzigartig auf der Deutschen Märchenstraße. Denn die Geschichte vom Rattenfänger ist kein nettes, buntes Märchen, sondern eine düstere Erzählung um Lügen und Rache ganz ohne Happy End.
Dieses Mysterium hat die Stadt in der ganzen Welt berühmt gemacht. Selbst in Asien und in Amerika kennen sie den Rattenfänger. Rund 725 Jahre ist es her, dass der Pfeifer die Flöte ansetzte, aufspielte und die Kinder die Stadt verließen. Beinahe genauso lang ranken sich Erklärungs- und Aufklärungsversuche um die Rattenfängersage. Warum und wohin die Kinder gegangen sind, können selbst Wissenschaftler nicht sagen. War es nur eine Auswanderung von Jung-Hamelnern, spielte die Pest eine Rolle oder war es gar ein Kinderkreuzzug? Für welche Version man sich auch entscheidet, bleibt jedem selbst überlassen. Die Spur der Kinder verliert sich bisher im Dickicht der Geschichte.

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